Abessinien

Um den Verfolgungen durch die Makkaner zu entgehen, wandern auf Anraten des Propheten Muhammad (s.) im Jahre 615 die ersten Muslime nach Abessinien aus; eine größere Gruppe folgt ihnen bald.

In Abessinien regiert zu dieser Zeit der Negus, ein christlicher Herrscher. In seinem Land werden die Muslime herzlich aufgenommen und können in Freiheit leben und ihre Religion ausüben.

Als die Makkaner eine Abordnung, zu der auch Amr Ibn Al-As gehört, nach Abessinien schicken, um die Auslieferung der Muslime zu verlangen, weist der Negus dies zurück; denn tief beeindruckt von den Lehren des Islam betrachtet er den Quran und das Evangelium Jesu als “Strahlen desselben Lichts”.

Nach der Hidschra verlassen die Muslime Abessinien, um ebenfalls in Al-Madina zu leben. (DM)

In der Prophetenbiographie von Ibn Ishaq wird folgendes berichtet: Als der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, all das Unglück sah, das bei der Verkündung der Botschaft seine Gefährten traf, und erkannte, dass er sie nicht davor schützen konnte, obwohl er selbst dank der Hilfe Allahs und seines Onkels Abu Talib verschont blieb, riet er ihnen, nach Abessinien auszuwandern. Denn dort, so sprach er, herrscht ein König, bei dem niemandem Unrecht geschieht. Es ist ein freundliches Land. Bleibt dort, bis Allah eure Not zum Besseren wendet! Darauf zogen die Gefährten des Propheten (s.) nach Abessinien, da sie die Versuchung fürchteten, vom Islam abzufallen, und sich mit ihrem Glauben zu Allah flüchten wollten. Es war dies die erste Auswanderung (Hidschra) aus Makka. Die Zahl der Auswanderer ohne die Kinder, die sie bei sich hatten oder die dort geboren wurden, betrug dreiundachtzig.

Als die Quraisch sahen, dass die Gefährten des Propheten sicher und geborgen in Abessinien lebten und dort ein schützendes Obdach gefunden hatten, beschlossen sie, zwei standhafte Männer aus ihren Reihen zum Negus zu schicken, um die Auswanderer von ihrem Glauben abzubringen und sie aus dem Land ihrer Zuflucht wieder zurückzuholen.

Sie sandten Abdullah Ibn Abi Rabia, und Amr Ibn Al-As.

Für den Negus und seine Heerführer gaben sie ihnen Geschenke mit. Umm Salama (r), später eine der Frauen des Propheten (s.), berichtete: Als wir in Abessinien ankamen, wurden wir vom Negus aufs Beste aufgenommen. Wir konnten in Sicherheit unseren Glauben ausüben und Allah dienen, ohne dass wir misshandelt wurden oder etwas Unziemliches zu hören bekamen. Als die Quraisch in Makka dies erfuhren, beschlossen sie, wegen uns zwei standhafte Männer aus ihren Reihen zum christlichen Negus zu schicken und ihnen vom Besten, was Makka an Waren zu bieten hatte, Geschenke für ihn mitzugeben.

Das, was man am meisten unter den aus Makka nach Abessinien eingeführten Waren schätzte, war Leder. Man brachte nun für den Negus eine große Menge davon zusammen und bereitete auch für jeden Bischof seiner Kirchen ein Geschenk vor. Dann schickten sie damit Abdullah und Amr nach Abessinien und gaben ihnen die Weisung mit, sie sollten zuerst den Bischöfen und dann dem Negus die Geschenke übergeben und diesen darauf bitten, ihnen die Auswanderer auszuliefern, bevor er selbst mit ihnen gesprochen habe. Die beiden machten sich auf den Weg und kamen zum Negus, bei dem wir uns in bester Obhut befanden.

Sie übergaben zunächst den Bischöfen ihre Geschenke und erklärten jedem von Ihnen: In das Land eures Königs sind einige törichte Burschen von uns geflohen, die sich vom Glauben ihres Volkes getrennt haben, aber auch nicht eurer Religion beigetreten sind. Sie haben eine neue Religion erfunden, die uns ebenso wenig bekannt ist wie euch. Die Führer unseres Volkes haben uns deshalb zu eurem König gesandt, damit er sie zu uns zurückschickt. Wenn wir nun mit dem König darüber sprechen werden, so ratet ihm, er solle sie uns ausliefern, ohne dass er erst mit ihnen redet; denn wir wissen am besten über sie und ihre Schandtaten Bescheid. Die Bischöfe versprachen es ihnen.

Dann übergaben die beiden auch dem Negus seine Geschenke, und dieser nahm sie an. Sie erhoben vor ihm die gleichen Anschuldigungen gegen die Auswanderer wie vor den Bischöfen, und diese rieten dem Negus zu, der Bitte der Makkaner nachzukommen. Doch da erzürnte der Negus und sprach: Nein, bei Allah, ich werde sie den beiden nicht ausliefern. Keinen, der schutzsuchend in mein Land kam und mich anderen vorzog, werde ich preisgeben, bevor ich sie nicht gerufen und darüber befragt habe, was die beiden von ihnen behaupten. Ist es so, wie sie sagen, werde ich sie ihnen ausliefern und zu ihrem Volk zurückschicken. Ist es aber nicht so, werde ich sie vor den beiden in Schutz nehmen und ihnen meine Gastfreundschaft gewähren, solange sie mich darum bitten.

Sodann schickte er einen Boten zu den Gefährten des Propheten, um sie zu holen. Als dieser zu ihnen kam, versammelten sie sich und berieten darüber, was sie dem Negus sagen sollten, wenn sie zu ihm kämen. Was auch immer geschehen wird, so sprachen sie, wir werden ihm sagen, was wir wissen und was unser Prophet uns befahl. Als die Muslime ankamen, fragte der Negus: Was ist das für eine Religion, deretwegen ihr euch von eurem Volk getrennt habt, ohne dass ihr meiner oder einer anderen bekannten Religion beigetreten seid? O König, begann Dschafar Ibn Abi Talib, der Amir der ausgewanderten Muslime, seine Antwort, wir waren ein unwissendes Volk, verehrten Götzen, aßen unreines Fleisch, gingen zu den Huren, verletzten die Verwandtschaftsbande, missachteten die Gastfreundschaft, und die Mächtigen unter uns Bereicherten sich an den Schwachen. So lebten wir, bis Allah uns aus unserer Mitte einen Propheten sandte, dessen Abstammung, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit und Anstand wir kennen. Er rief uns auf, die Einheit Allahs zu bekennen und Ihm zu dienen, die Steine und Götzen aber, die wir und unsere Väter verehrten, aufzugeben. Er befahl uns, stets die Wahrheit zu sprechen, Treue zu wahren, Blutsbande zu achten, dem Gast Schutz zu gewähren und Verbrechen und Blutvergießen zu meiden. Er verbat uns zu huren und zu lügen, den Waisen den Besitz zu nehmen und unbescholtene Frauen zu verleumden. Er befahl uns, Allah allein zu verehren und Ihm nichts beizugesellen, zu beten, Almosen zu geben und zu fasten. Wir glaubten ihm, folgten ihm in seiner Offenbarung, dienten Allah allein, ohne Ihm etwas anderes beizugesellen, erachteten für verboten, was er uns für verboten erklärte, und sahen als erlaubt an, was er uns erlaubte. Unser Volk aber stürzte sich auf uns, peinigte uns und versuchte, uns von unserem Glauben abzubringen, damit wir die Verehrung Allahs aufgeben, zum Götzendienst zurückkehren und wieder wie zuvor die üblen Dinge für erlaubt halten sollten. Als sie dann mit Gewalt gegen uns vorgingen, uns unterdrückten, uns Beschränkungen auferlegten und uns an der Ausübung unseres Glaubens hinderten, begaben wir uns in dein Land und wollten lieber bei dir als bei jemand anderem sein. Wir schätzen deinen gastlichen Schutz und hoffen, dass uns bei dir, o König, kein Unrecht geschieht.

Hast du etwas von der Offenbarung dabei, die euer Prophet euch brachte? fragte der Negus. Ja. Lies es mir vor! Dschafar rezitierte einen Abschnitt aus der Sura “Maryam” (Maria), und, wahrlich, der Negus weinte, bis sein Bart feucht war.

Und auch seine Bischöfe weinten, bis Tränen ihre heiligen Schriften benetzten.

Dann wandte sich der Negus an die beiden Abgesandten der Makkaner und sprach: Diese Offenbarung und die Offenbarung Jesu kommen aus derselben Nische. Geht! Bei Allah, ich werde sie euch nicht ausliefern und sie nicht hintergehen!

Als die beiden den Negus verließen, sagte Amr zu Abdullah: Morgen werde ich ihm etwas erzählen, womit ich sie an der Wurzel vernichte! Abdullah, der gottesfürchtigere der beiden, wandte ein: Tue es nicht! Auch wenn sie sich uns widersetzt haben, bleiben sie doch unsere Stammesgenossen. Amr aber beharrte darauf und sprach: Ich werde ihm von ihrer Behauptung berichten, Jesus, der Sohn Mariens, sei nur ein Mensch gewesen. Am nächsten Morgen ging Amr zum Negus und sagte: O König, sie behaupten Ungeheuerliches von Jesus. Lass sie holen und frage sie danach!

Der Negus folgte seinen Worten. Noch nie war uns dergleichen geschehen. Die Auswanderer versammelten sich wieder und berieten, was sie über Jesus antworten sollten, wenn man sie danach fragte. Dann beschlossen sie: Wir werden sagen, was Allah sagt und was uns unser Prophet belehrt hat, mag kommen was will. Als sie zum Negus kamen und er sie nach ihrer Meinung über Jesus fragte, antwortete ihm Dschafar: Wir sagen über ihn, was unser Prophet uns belehrt hat, nämlich dass er der Diener Allahs, sein Prophet, sein Geist und sein Wort ist, das Er der Jungfrau Maria eingegeben hatte.

Der Negus nahm einen Stock vom Boden auf und sprach: Wahrlich, Jesus ist nicht um die Länge dieses Stockes mehr als das, was du sagst. Ein Raunen ging durch die ihn umgebenden Bischöfe, doch er fuhr fort: Wenn ihr auch raunt und an die Muslime gewandt, geht, ihr seid sicher in meinem Land. Wer euch beschimpft, wird bestraft; wer euch beschimpft, wird bestraft; wer euch beschimpft, wird bestraft! Nicht für einen Berg Gold würde ich einem von euch Unrecht tun. Gebt den beiden ihre Geschenke zurück. Ich brauche sie nicht. Allah hat kein Bestechungsgeld angenommen, als Er mir meine Herrschaft zurückgab; warum sollte ich nun gegen Ihn Bestechungsgeld annehmen! Er ist damals nicht den Leuten gegen mich gefolgt, weshalb sollte ich nun ihnen gegen Ihn folgen.

Da verließen die beiden den Negus, schmachvoll und mit den Geschenken, die sie mitgebracht hatten. Wir aber blieben bei ihm in sicherer Obhut. Die ausgewanderten Prophetengefährten hatten in Abessinien eine sichere Zuflucht gefunden; der Negus schützte jeden, der sich zu ihm flüchtete.

Die Gefährten des Propheten (s.), die nach Abessinien ausgewandert waren, hörten dort, die Makkaner seien alle zum Islam übergetreten, und zogen deshalb nach Makka zurück. Als sie jedoch in der Nähe der Stadt anlangten, erfuhren sie, dass die Nachricht von der Bekehrung der Makkaner falsch war, weshalb sie nur unter dem Schutz einer Sippe oder heimlich in die Stadt zurückkehren konnten.

Einige von ihnen blieben dann in Makka, bis sie mit dem Propheten nach Yathrib auswanderten und auf seiner Seite bei Badr und Uhud kämpften, andere wurden bis nach der Schlacht von Badr durch ihre heidnischen Verwandten vom Propheten ferngehalten, und wieder andere starben noch vorher in Makka.

Insgesamt kehrten dreiunddreißig Männer aus Abessinien zum Propheten (s.) nach Makka zurück. (Rtt)

(—-> Negus)